Herr Ludwig, wie sind Sie zur Baubotanik gekommen?
Im Grunde über historische Beispiele lebender Architektur, von denen es unterschiedliche gibt. Die „Tanzlinden“ zum Beispiel, die so überformt werden, dass begehbare Baumkronen-Räume entstehen. In den 80er- und 90er-Jahren gab es auch aus der Ökobewegung heraus eine Reihe von Ansätzen, Aspekte der lebenden Architektur aufzugreifen. Gestört hat mich daran immer der Nischencharakter.
Wie meinen Sie das?
Ich bin von der Idee getrieben, wie sich daraus Profit für die moderne Architektur und Stadtentwicklung schlagen lässt. Ziel der Baubotanik ist die Entwicklung von Konzepten, Techniken und Entwurfsmethoden, um unsere gebaute Lebensumwelt zu verändern. Häuser und Bäume sollen systematisch zusammengedacht, sie sollen fusioniert und zusammengebaut werden. Daran schließen sich verschiedene Themenbereiche an, die viel mit Stadtgrün und -klima sowie dem Zusammenspiel von Wasser und Pflanzen, also blaugrünen Infrastrukturen zu tun haben. Das Feld der Baubotanik reicht von Ingenieurwissenschaften bis zu Naturwissenschaften und erforscht komplexe Themen wie die lebenden Brücken der Khasi und Jiantia-People im indischen Bundesstaat Meghalaya.
74 dieser Brücken haben Sie untersucht. Was macht sie so besonders?
Der Baum wird wirklich als Konstruktionsmaterial aufgefasst. Da wird nichts in ihn reingebaut wie bei einem Baumhaus, sondern dahinter steht ein auf Jahrzehnte angelegter, grundsätzlicher Plan. Dafür wird auf der einen Flussseite ein Baum gepflanzt. Wenn er nach 15 Jahren so groß ist, dass er Luftwurzeln bildet, fängt man an, diese über den Fluss zu leiten und so zu verschlingen, dass daraus ein Konstrukt entsteht. Der Plan muss immer wieder angepasst und weiterentwickelt werden, über Jahrzehnte hinweg. Dieses Transformieren eines lebenden Organismus in eine funktionale, schöne Struktur, ist einzigartig.
Aber welchen Nutzen kann die moderne Architektur daraus ziehen?
Was man von den Brücken lernen kann, ist etwa die Strategie des langfristigen Denkens. Das ist heute natürlich schwierig, weil niemand bereit ist, so lange auf etwas zu warten. Aber Bäume sind essentiell, um der Überhitzung der Städte entgegenzuwirken. Also entwickeln wir in der Baubotanik Techniken, um schneller große Grünvolumina in Städten zu erzeugen.
Sich im Sinne der Nachhaltigkeit auf historische Praktiken zurückbesinnen, ist aktuell ja ohnehin ein großes Thema.
Wir arbeiten zwar zu historischen Beispielen wie den lebenden Brücken. Genauso sind aber auch hochmoderne Quellen Teil unserer Forschung. Neue Erkenntnisse aus der botanischen Grundlagenforschung etwa, oder moderne Entwurfsmethoden. Zum Teil kommt auch Simulations-Software aus der Forstwissenschaft zum Einsatz. Es wäre total verkürzt zu sagen, die Baubotanik übertrage nur alte Praktiken in die Zukunft. Diese Praktiken müssen ja transformiert und mit neuem Wissen angereichert werden! Für uns weisen die lebenden Brücken nicht den Weg „zurück zur Natur“, sondern in eine Zukunft, in der Natur und Technologie zu symbiotischen, aber auch komplementären Hybriden verschmelzen.
Wie kann so etwas aussehen?
Der Platanenkubus in Nagold ist unser bisher größtes Projekt und ein gutes Beispiel: eine lebende Struktur in der Größenordnung eines mehrstöckigen Hauses. Sie besteht aus mehr als 1000 jungen Pflanzen, von denen nur die unteren im Boden und alle anderen in Pflanzentöpfen wurzeln. Alle Pflanzen sind so miteinander verbunden, dass sie zu einer netzartigen Struktur verwachsen, zu einer einzigen großen Pflanze. Ab einem bestimmten Zeitpunkt können die Töpfe und das Stahlgerüst entfernt werden, und eine eigenständige, lebende Architektur ist entstanden.
Dies ist ein Beitrag aus dem stilwerk Magazin „ever green“ von Manuel Almeida Vergara. Ihr Exemplar des stilwerk Magazins erhalten Sie an den stilwerk Standorten sowie im ausgewählten Zeitschriftenhandel.