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Material Girls

Ein Stuhl soll gut aussehen und bequem sein? Moment! Fragt man das Kollektiv Hyloh, ist das Wichtigste an einem Produkt das, woraus es besteht. Die Material-Experten beraten Firmen zur Optimierung ihrer Herstellungsprozesse. Eins ihrer wichtigsten Themen: Nachhaltigkeit.

Ein neuer Esstisch namens ADÈLE von der österreichischen Möbelmarke Wittmann.

© Hyloh


Text: Judith Jenner


Nachhaltigkeit bedeutet, dass künftige Generationen das haben, was sie brauchen. So wie wir momentan konsumieren ist es nicht nachhaltig, wel wir zu viel nehmen und zu viel verschwenden.

Wenn Fiona Anastas, Elodie Ternaux und Sarah D’Sylva einen Stuhl ansehen, interessiert sie weniger seine Bequemlichkeit. Sie sehen das Holz, aus dem er geschaffen ist, mit welcher Art Schrauben die  Sitzfläche mit den Beinen verbunden ist und welche Art von Stoffgleitern den Boden schonen, auf dem er steht.


Die drei Frauen haben 2017 mit anderen internationalen Designern und Material-Profis das Kollektiv Hyloh gegründet. Was sie eint, ist die Frage nach dem Stoff, aus dem Alltagsgegenstände wie Kaffeemaschinen, Armbanduhren oder Möbel gemacht sind. „Wenn wir unsere Entdeckungen und Informationen teilen, können wir einfach noch besser arbeiten“, sagt Fiona Anastas.  


Den Namen Hyloh leiteten die „material minds“ vom altgriechischen Begriff „Hylo“ ab, der übersetzt so viel wie Stoff oder Materie bedeutet. „Material ist alles, nichts existiert ohne Grund. Uns fasziniert nicht allein dessen konstante Weiterentwicklung, sondern auch die Verbindung zum Menschen – und das aus sensorischer, emotionaler und wertschöpfender Perspektive“, erklärt Elodie Ternaux.

Statt in einem gemeinsamen Büro sitzen die Mitglieder von Hyloh in der halben Welt verstreut. Fiona Anastas arbeitet entweder direkt beim Kunden oder in einem Co-Working Space in Brooklyn. In Video- oder Telefonkonferenzen tauscht sie sich mit ihren Kollegen in Australien, China, Deutschland oder Frankreich aus.



© Hyloh


Persönlich treffen sie sich auf Design-Messen; etwa in Mailand oder Amsterdam, wo Hyloh dieses Jahr im Rahmen des „FRAME Labs“, einem Kongress des gleichnamigen Design-Magazins, unterschiedliche Zukunftsszenarien und Materialwelten präsentierte.

Klimaschutz spielte nicht nur dort eine wichtige Rolle. „Nachhaltigkeit bedeutet, dass künftige Generationen das haben, was sie brauchen. So wie wir momentan konsumieren, nehmen und verschwenden wir viel zuviel“, sagt Fiona Anastas. Ihrer  Ansicht nach gibt es keine wirklich nachhaltigen Materialien; der Begriff würde die Problematik nur vereinfachen. Und wie kann man dann gegen den Klimawandel anwirken? Die überzeugendste Strategie sehen die Hylohs in der Formel: „reducing, refusing and reusing“. Mit ihr könne man auch das restaurative Design revolutionieren. „Wenn wir eine Kreislaufwirtschaft anstreben, müssen wir Abfall als Ressource betrachten“, erläutert Kollegin Sarah D'Sylva. „Dank verbesserter Recycling-Technologien ist es heute ja möglich, Abfälle wieder zu einem vergleichbaren Rohstoff umzuwandeln. Oder alternativ in einen neuen Werkstoff mit einer besonderen Ästhetik.“ Beispiele dafür sind das Textil-Recycling-Material BlockTexx, Ecor Panels aus Papierfasern oder das Material Seaqual aus 100 Prozent recycelten Polyesterfasern, die teils aus Kunststoffabfällen aus der Schifffahrt stammen.

Klingt wie die Lösung aller Probleme, doch noch benötigt die Infrastruktur für Recycling und Wiederaufbereitung viel Investition und Entwicklung. „Bis diese Lücke geschlossen ist, sollten sich Verbraucher für Produkte aus recycelten Materialien entscheiden, die sich reparieren und wiederaufarbeiten lassen. Oder für Marken, die Rücknahmeprogramme anbieten“, empfiehlt Sarah. Auf diese Weise sei zumindest eine regenerative Schleife garantiert.


Interessante Entwicklungen sehen die Material-Experten von Hyloh bei biologisch abbaubaren Materialien. Das Versprechen klingt verlockend: Wie Kartoffelschalen oder Kaffeesatz werden sie kompostiert und bauen sich rückstandsfrei ab, ja liefern der Umwelt sogar Nährstoffe. Eine verbindliche Norm soll garantieren, dass sich die Materialien tatsächlich vollständig zersetzen und nicht als Mikropartikel in der Erde oder den Meeren bleiben. Dafür braucht es allerdings eine entsprechende Kompostieranlage, was logistische Herausforderungen mit sich bringt.

Zu den Trends der Zukunft zählen die Profis von Hyloh nicht nur gewachsene Stoffe, sondern auch althergebrachte Herstellungsweisen wie Fermentierung. Dazu geht es auch darum, neue Verwendungsmöglichkeiten für traditionelle Materialien wie Hanf oder Rattan zu erkunden. Was technische Materialien und Herstellungsverfahren angeht, sehen sie Photovoltaik, Graphen oder 3D-Druck auf dem Vormarsch.


Ihren Kunden rät Hyloh auf dem Hintergrund von Studien, komplette Herstellungsverfahren zu überdenken, um zu einem nachhaltigeren und runderen Produkt zu gelangen – zum Beispiel, indem Klebstoffe eliminiert werden oder geschichtete Monomaterialien zum Einsatz kommen. Mit Erfolg, die Liste der Auftraggeber ist breit gefächert. Sie kommen etwa aus der Unterhaltungselektronik, der Architektur, der Einrichtungs-, Verpackungs- und Kosmetikbranche. Für die Zukunft prognostiziert Fiona Anastas: „Materialien wird man zunehmend so wählen, dass ihre Haltbarkeit im Einklang mit ihrer vorgesehenen Lebensdauer steht. Dazu sollen sie die Werte einer Marke verkörpern. Insgesamt werden sie uns aber weiterhin so voranbringen, wie sie es immer getan haben.“ Fragt man Hyloh, so sind Materialien nichts weniger als der Motor der Menschheit.









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